Pippi Langstrumpf im Kinderheim?

„Wir arbeiten beide für die Kinder- und Jugendhilfe und sind an Weiterentwicklung interessiert“, sagt Angelika Stock. Für sie, Betriebsleiterin der Kommunalen Kinder- und Jugendhilfe (KKJFH) und Michael Müller, Direktor der Stiftung Waisenhaus ein Grund, die Ausstellung „Kinder in Heimen von 1945 bis 1975“ der evangelischen Kirche in das Foyer der Bleichstraße 10 zu holen.

Angelika Stock erzählt, wie das gemeinsame Projekt entstand: „Die Ausstellung dient uns als Scharnier, um zusammen mit Vorträgen und Workshops zu einem trägerübergreifenden Austausch einzuladen. Wir möchten gemeinsam mit anderen über den Tellerrand der Heimerziehung hinauszudenken. Die Themen von Scham, Menschenwürde, die Arbeit mit der Herkunftsfamilie und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sind für Pädaogog:innen in unterschiedlichen sozialen Bereichen von elementarer Bedeutung. Gleichzeitig versprechen Kooperationen eine ganze Reihe von Vorteilen: Kosten und Risiken werden geteilt, Ideen und Impulse inspirieren alle Beteiligten.

Sozialdezernentin Elke Voitl sagte bei der Eröffnung: „Die Ausstellung berührt mich sehr. Die Heimerziehung ist ein beschämender Teil unserer Geschichte - die Gewalt, die junge Menschen erleiden mussten, macht mich fassungslos, ihnen wurde unermesslicher Schmerz zugefügt. Die Aufarbeitung ist eine Pflicht, denn nur, wenn wir uns mit dem Thema beschäftigen, können wir es in Zukunft besser machen.“

Die Wanderausstellung ist zu den üblichen Bürozeiten noch bis zum 19. November zu sehen. Die KKJFH ist Mieterin in den Räumen der seit 1679 bestehenden Stiftung Waisenhaus. Durch ein spannendes Rahmenprogramm mit Vorträgen und Workshops haben Stock und Müller nicht nur die damalige Zeit erlebbar gemacht, sondern die Grundlage für eine fachbereichsübergreifende Fortbildung in Frankfurt geschaffen.

 

Welche Rolle spielt Pippi Langstrumpf als Gegenbild damals vorherrschender Erziehungsvorstellungen?

Die Frage nach der Rolle von Pippi Langstrumpf wurde bei der Eröffnung der Ausstellung von der Historikerin Anette Neff thematisiert. Pippi Langstrumpf ist das Gegenbild der damals vorherrschenden Erziehungsvorstellungen, die geprägt waren von „Sauberkeit und Ordnung“. In jener Zeit sahen Betreuende es als ihre Aufgabe an, Kinder notfalls mit Gewalt zu disziplinieren, anstatt sie individuell zu fördern. Kinder sollten funktionieren und unauffällig sein. Der Erfolg des 1949 in Deutschland erschienenen Buches von Astrid Lindgren zeigt jedoch, dass parallel dazu ganz offensichtlich bei Eltern und Großeltern zumindest unbewusst noch ein anderes Verständnis für das, was Kinder brauchten, existierte. Dafür steht Pippi Langstrumpf. Ein Mädchen mit roten abstehenden Zöpfen, zu kurzem Kleid mit herauslugenden Hosen und Männerschuhen, die alleine lebt und noch dazu stärker ist als zwei Polizisten beim Versuch, sie in ein Heim zu stecken.

Anette Neff ist für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau tätig und hat die Wanderausstellung erarbeitet. Im Gegensatz zu Pippi Langstrumpf waren in der Bundesrepublik in den drei Nachkriegsjahrzehnten rund 750.000 Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht. Neff hat zahlreiche Gespräche mit Betroffenen geführt, will ihre Advokatin sein. Um die Menschen nicht auf ihre Heimerfahrungen zu reduzieren, präsentiert Neff in der Ausstellung keine individuellen Schicksale. Es gab zur damaligen Zeit einen großen Bedarf an Kinderheimen, weil viele Familien durch den Krieg zerstört und Berufstätigkeit und Erziehung wegen mangelnder Betreuungsmöglichkeiten schwer vereinbar waren. So waren oft Kinder von alleinerziehenden Müttern von einer Heimunterbringung betroffen.

 

Warum ist der Blick in die Vergangenheit so wichtig für die pädagogische Arbeit heute und morgen?

Stock und Müller wissen, dass es mehr als Gesetze braucht, um Menschenwürde in der Kinder- und Jugendhilfe sicher zu stellen. „Es braucht das Denken und die Strukturen, damit Hilfen vom Kind ausgedacht werden und nicht Kinder in das vorhandene Hilfesystem eingeordnet werden“, so Stock. „Jugendhilfe kann eine Zumutung sein. Das gilt es zu reflektieren. Die Erfahrungen, die ein Junge oder Mädchen in der Jugendhilfe macht, prägen ein Leben lang. Die ermutigenden Erfahrungen ebenso wie die Tiefpunkte und wie sie bewältigt wurden.“ Müller sieht zudem die Gestaltung von Übergängen bei der Begleitung junger Menschen in die Selbständigkeit als eine wichtige Frage an. Die Stiftung Waisenhaus unterstützt daher nicht nur ehemalige Heimkinder, die sogenannten Careleaver, aus stationären Einrichtungen, sondern auch junge Menschen, die im Rahmen der Waisenhaus Stiftung ambulante Förderung erhalten haben.

Michael Müller betont, dass sich die Stiftung und der städtische Eigenbetrieb bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ergänzen: „Die KKJFH betreibt stationäre Einrichtungen zur Inobhutnahme und ist daher eher kurzfristig ausgerichtet. Wir unterhalten Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche mitunter bis zu mehreren Jahren leben. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Unterstützung von Alleinerziehenden und ihren Kindern, die nach einem Aufnahmeverfahren aus Stiftungserträgen finanziert wird. Der kommunale Eigenbetrieb dagegen machen niedrigschwelligere Angebote beispielsweise der offenen Jugendarbeit.“

In der aktuellen öffentlichen Diskussion um die sogenannten „Systemsprenger“, für die das heutige Hilfesystem zu eng und zu starr ist, zeigt sich nach Ansicht von Angelika Stock die Notwendigkeit für die Verantwortlichen, die Jugendhilfe flexibler zu gestalten. „Es braucht Pädagog:innen, die eine fundierte Ausbildung und eine reflektierte Haltung haben.“ Wie schwierig Weiterentwicklungen sind, habe sich daran gezeigt, dass selbst im Jahr 2000 längst nicht alle Erwachsenen das verbriefte Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung, also die Unzulässigkeit von körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen, begrüßten, erläutert Stock. „Das zeigt, wie langwierig es für Einzelne und eine Gesellschaft sein kann, einen Bewusstseinswandel von ‚elterlicher beziehungsweise staatlicher Gewalt‘ hin zu einem Erziehungsbild von Respekt und Würde zu vollziehen. Und wenn es gilt, Missstände zu offenbaren, ist für den Einzelnen, für ein Team, privat und auch im öffentlichen Dienst, Zivilcourage gefragt.“

 

Im Workshop „Frankfurter Zeit, Heimerziehung in den 1970er und 1980er Jahren“ kommen ehemalige „Zöglinge“ und Betreuende zu Wort

Petra Helbig, Doris Mollath-Zündorf und Dieter Kieweg suchen in ihrem Workshop „Frankfurter Zeit, Heimerziehung in den 1970er und 1980er Jahren“ am Nachmittag des 10. November (geänderter Ort: Bleichstraße 10) den Dialog mit ehemaligen Heimbewohner:innen und Mitarbeiter:innen. Zu dieser Veranstaltung ist eine Anmeldung an info.kjfh@stadt-frankfurt.de erforderlich. Helbig ist pädagogische Fachberaterin und Leiterin der therapeutischen Fachstelle für Kinder und Jugendliche der Stiftung Waisenhaus, Mollath-Zündorf Leiterin der Wohn- und Tagesgruppe Paul-Ehrlich-Straße der Stiftung, Kieweg leitet den Geschäftsbereich „Einrichtungen der Jugend- und Erziehungshilfe“ bei der KKJFH. Sie möchten mit ehemaligen Bewohner:innen und Betreuenden ins Gespräch kommen und gemeinsam mit interessierten pädagogischen Fachkräften authentische Einblicke in den Heimalltag gewinnen. „Wir wollen wissen, wie sie die Zeit in der jeweiligen Einrichtung für sich persönlich erlebt haben. Besonders Aspekte wie Disziplinierung und Normierung damals hin zu Wertschätzung, Beziehungsgestaltung und Partizipation heute sollen dabei zur Sprache kommen. Gerade in Frankfurt waren die Auswirkungen der Heimkampagne in den 1970er Jahren spürbar. Die ersten Jugendwohngruppen entstanden, die Pädagogik begann sich zu reformieren“, sagt Petra Helbig.

Dieter Kieweg spricht für die vergangenen Jahre von einem erneuten Paradigmenwechsel vom Hilfegedanken hin zu einer Stärkungspädagogik, der in der Namensänderung vom Kinder- und Jugendhilfegesetz hin zum Kinder- und Jugendstärkungsgesetz seinen Ausdruck gefunden hat: „Neben der Wahrung des Kindeswohls sehen wir unseren Auftrag vor allem darin, die uns anvertrauten Minderjährigen zu stärken und ihr Selbstvertrauen wachsen zu lassen. Selbstbewussten Persönlichkeiten, die Selbstwirksamkeit in der Ausübung demokratischer Prozesse erlernt haben, gelingt es deutlich besser, für ihre Rechte einzutreten und zu formulieren, womit sie nicht einverstanden sind und Nein zu sagen.“ Um die jungen Menschen in diesem Sinne zu befähigen, sind Beteiligungs- und Präventionskonzepte ebenso wie Beschwerdeverfahren in die pädagogische Praxis der stationären und teilstationären Einrichtungen integriert und Voraussetzung für die Erteilung einer Betriebserlaubnis.

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